Im Jahr 2017 saß Fabio V., ein 18-jähriger Italiener, für knapp fünf Monate in Untersuchungshaft im Hamburger Jugendknast Hahnöfersand, nachdem er an einer Demonstration gegen den G20-Gipfel teilgenommen hatte. Wir hatten den Prozess gegen ihn damals beobachtet und ausführlich darüber berichtet.
Ein Detail daraus hat uns bis heute nicht losgelassen: Eine frühere Entlassung Fabio V.s aus der Untersuchungshaft wurde von einem Richter des Oberverwaltungsgerichts unter anderem mit der Begründung vereitelt, Fabio V. zeige „schädliche Neigungen“. Dieses erschreckende Werturteil über einen jungen Menschen erinnerte in der Wortwahl an nationalsozialistische Ideologien von sogenannten „Volksschädlingen“.
Das Sprachgefühl täuschte nicht: der Terminus der „schädlichen Neigungen“ stammt aus dem Reichsjugendgerichtsgesetz von 1943. Und: Dieser Rechtsbegriff ist bis heute integraler Teil des Jugendstrafrechts. Täglich werden jungen Menschen gerichtlich „schädliche Neigungen“ bescheinigt und sie deshalb eingesperrt. Das dahinterliegende Menschenbild, das Menschen in „schädlich“ und „wertvoll“ einteilt und in der NS-Zeit über Leben und Tod entschied, wird im Jugendstrafrecht – gegenüber besonders vulnerablen Personen – also bis heute weiter genutzt. Etwaiges Fehlverhalten wird als unveränderlicher Persönlichkeitszug eingeordnet, oder als „erhebliche Anlage- oder Erziehungsmängel“, wie es in der aktuellen juristischen Literatur heißt.
PERSONELLE KONTINUITÄTEN
Einer der zentralen Architekten des NS-Jugendstrafrechts war der Rechtswissenschaftler Friedrich Schaffstein. Mit anderen Juristen der Kieler Universität hatte er daran gearbeitet, die NS-Ideologie in Rechtsbegriffe zu übersetzen und die nationalsozialistische Todesmaschinerie juristisch zu legitimieren. Explizites Ziel der „Kieler Schule“ war die Verwirklichung des völkischen, rassistischen und totalitären NS-Staates auch mit strafrechtlichen Mitteln. So entwickelte Schaffstein u.a. die NS-Tätertypenlehre mit und konzentrierte sich ab 1936 auf das NS-Jugendstrafrecht. Er leitete die Arbeitsgemeinschaft für Jugendstrafrecht: dort wurden Reformen wie die zur Einführung des Jugendarrests und des Kriteriums der „schädlichen Neigungen“, sowie das 1943 verabschiedete Reichsjugendgerichtsgesetz vorbesprochen.
Schaffstein propagierte die Vorstellung, dass kriminelle Neigungen und Verhaltensmuster genetisch bedingt und bereits im Jugendalter erkennbar seien. Diese Sichtweise beeinflusste maßgeblich die deutsche Jugendstrafrechtspraxis und fand auch nach 1945 noch Anwendung. Nach Gründung der BRD profitierten Schaffstein und einige seiner Kieler Kollegen von der Renazifizierung der westdeutschen Behörden. In den 50er Jahren fanden er und andere NS-Kollegen sich an der Universität Göttingen wieder zusammen, ab 1954 hatte er dort einen Lehrstuhl inne. Seine NS-Vergangenheit schadete ihm nicht, im Gegenteil: Schaffstein und seine Netzwerke trugen dazu bei, seine überholten und wissenschaftlich fragwürdigen Ansichten langfristig in den deutschen Rechtswissenschaften zu verankern.
Er selbst redete seinen eigenen Anteil an der NS-Justiz klein und entlastete sich mithilfe seiner Schriften selbst – habe er doch in der NS-Zeit den Erziehungsgedanken im Jugendstrafrecht weiter hoch gehalten. Er war lange Zeit der geachtetste Jugendstrafrechtler der BRD, 1959 erschien sein Lehrbuch zum Jugendstrafrecht, welches bis heute als Standardwerk gilt.
DAS JUGENDSTRAFRECHT IST UND BLEIBT „VON GESTERN“
Die Zuweisung sogenannter „schädlicher Neigungen“ ist bei Weitem nicht das einzige Überbleibsel aus dem Jugendstrafrecht der Nazis, das bis heute überdauert. Unverändert beibehalten ist die im NS konzipierte Dreigliedrigkeit des Jugendstrafrechts in Maßnahmen zur Erziehung, Zuchtmittel und Jugendstrafe (d.h. längerer Freiheitsentzug).
Auch der von Friedrich Schaffstein erdachte Jugendarrest als kurzer, schmerzlicher Freiheitsentzug wirdweiterhin angewandt. Im seit Jahrzehnten kaum veränderten Jugendstrafrecht zeigt sich ein Verständnis von Erziehung als „Zucht“ und Strafe, das einem menschenrechtlichen Verständnis von Erziehung wider- spricht. Die Erziehungskonzepte im Jugendstrafrecht und im kriminalpolitischen Diskurs sind geprägt von Autoritarismus. Sie weisen große Widersprüche zu demokratischen Verständnissen von Erziehung auf, die diese als Ausbildung von Mündigkeit oder als Erziehung zum Widerspruch sowie zur Kraft zur Reflexion und zur Selbstbestimmung begreifen.
Erst 1990 erfolgten umfassende Änderungen am Jugendgerichtsgesetz (JGG), allerdings kaum in Bezug auf die NSKontinuitäten. Im Jahr 1994 wurden die Richtlinien zu § 16 JGG gestrichen, in denen von »gutgearteten« und »verwahrlosten « Jugendlichen die Rede war. 2016 folgten weitere Änderungen – die allerdings fast ausschließlich punitiver Natur waren. Hierzu zählen das Anheben des maximalen Strafmaßes auf 15 Jahre, die Möglichkeit zur nachträglichen Anordnung von Sicherungsverwahrung auch für junge Menschen, sowie die Verbindung von Jugendstrafe zur Bewährung mit dem sogenannten Warnschussarrest. All diese Änderungen widersprechen kriminologischen Fachdebatten. Es setzen sich bis heute konservative und extrem punitive Konzepte durch.
Die Rechtswissenschaften haben also noch viel Arbeit vor sich, um die Kontinuitäten zur NS-Zeit aufzuarbeiten und die notwendigen ideologischen Brüche zu vollziehen. Klar ist aber auch, dass dies nur in Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen gelingen kann.
Der vorliegende Text wurde als Langfassung in der Ausgabe 3/2024 der Zeitschrift Forum Wissenschaft veröffentlicht. Er wurde zusammen mit der Kriminologin und Sonderpädagogin Lisa Tölle und Jan Tölle, dem Geschäftsführer von EXITEnterLife e.V., einem Träger für emanzipatorische Bildung für junge Menschen inHaft, verfasst.