17. Jan. 2012
(Anti-)Rassismus / Polizeigewalt / Praxis & Aktion / Prozessbeobachtung / Rechtsstaatlichkeit

Das Dessau-Prinzip: Opfer zu Tätern machen

Nach den polizeilichen Gewaltexzessen gegen eine Demonstration zum Gedenken von Oury Jalloh in Dessau hat der sachsen-anhaltinische Innenminister Holger Stahlknecht einen Brief an die ihm unterstellten Polizeibeamten geschrieben. Darin äußert er mit einem Anflug von Bedauern, dass der Slogan „Oury Jalloh – das war Mord“ von dem großzügig ausgelegten Recht der Meinungsfreiheit gedeckt sei. 

Er schreibt: „Das Recht der Meinungsfreiheit“ werde in Deutschland „sehr hoch bewertet“. Man fragt sich: Kann man es auch niedrig bewerten? Zu tiefst erschreckend ist jedoch die Art, wie er die Realität umdeutet. Auch er empfindet solche Aussagen als drastische Provokationen und kann die emotionalen Reaktionen „seiner“ Polizeibeamten verstehen. Kein Wort darüber, dass die Polizeibeamten durch die Polizeileitung gegen das Motto der Demonstration aufgehetzt wurden, indem ihnen gesagt wurde, dieser sei rechtswidrig. Mit Bedauern werden die Polizeibeamten jetzt darauf hingewiesen, dass diese Aussagen zugelassen und hingenommen werden müssten. Man dürfe sich nicht provozieren lassen. Er tut so, als ob die Meinungsäußerung verständlicherweise polizeiliche Gewalt provoziert hätte. Die Polizeibeamten hätten Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu gewährleisten, auch dann, „wenn Ausschreitungen durch Veranstaltungsteilnehmer provoziert und initiiert“ würden.

Das aggressive polizeiliche Handeln wird innenministeriell ins rechte Licht gerückt! Jedoch: Die Provokation und Aktion ging allein von der Polizei aus, indem sie versuchte, die polizeilich inkriminierten Transparente gewalteskalierend habhaft zu werden. Die Eingriffsgrundlage der Polizei war rechtswidrig und mit den Grundrechten unvereinbar! Darauf haben Bürgerrechtsorganisationen die Polizeidirektion rechtzeitig hingewiesen. Erst aus dieser Rechtswidrigkeit heraus wurden Bürgerinnen und Bürger von Polizisten schwer verletzt. Es wurde polizeigewaltsam in ihre Grundrechten eingegriffen.

Statt nun couragiert das polizeiliche grundrechtsentbundene Handeln zu kritisieren, den Beamten ihr rechtswidriges Eingreifen einsichtig zu machen, sich bei den Opfern zu entschuldigen und dieselben für ihre erlittenen Schmerzen und ihren Schaden zu entschädigen, wird die Polizei seitens des Innenministeriums geschützt. Die Opfer jedoch werden zu den eigentlichen handelnden Provokateuren und Initiatoren der Gewalt gemacht. Hingegen: Ohne das gewaltsame Eingreifen der Polizei am 7. Januar 2012 in Dessau wäre die Demonstration wie seit Jahren friedlich verlaufen. Der Innenminister schützt mit seinem Brief in aller erster Linie seine „provozierten“ Polizeibeamten – die Grundrechte der Demonstrantinnen und Demonstranten sind kaum der Rede wert. Kein Bedauern mit den Provokateuren, heißt die vorwärtsverteidigende Devise.  

Seit fünf Jahren wird gerichtlich die polizeidiktierte und staatsanwaltschaftlich übernommene Hypothese untersucht, dass ein stark alkoholisierter Asylsuchender, der nach polizeilicher Leibesvisitation an Händen und Füßen auf eine feuerfesten Matratze gefesselt worden ist, dieselbe selbst entzündet habe. Um wie viel mehr, so bleibt öffentlich besorgt zu fragen, bestimmt das Dessau-Prinzip, nämlich Opfer zu Tätern umzufunktionieren, auch die gerichtliche Aufklärung des Verbrennungstodes Oury Jallohs in der Polizeigewahrsamszelle Nr. 5.  Innenminister Holger Stahlknecht jedenfalls hat bewiesen, dass er zum Schutz „seiner“ Polizeibeamten bereit ist, Opfer zu Tätern zu machen. Die Polizeizeugen im Gerichtsverfahren werden es vernommen haben.

 

 

 

 

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