19. Feb. 2018

INFORMATIONEN 1-2018 | Februar 2018

Ein syrischer Mann, Ahmed H., selbst in Sicherheit in Europa lebend, verhilft im Jahr 2015 seinen alten Eltern sowie nahen Verwandten, die der Gewalthölle in Syrien entfliehen konnten, über die Türkei und die Ägäis nach Europa. Unter höchster Lebensgefahr. Und er führt sie weiter bis nach Serbien. Ihr Ziel: Verwandte im Norden Europas. Strapazen, Entbehrungen und Gefahren liegen ebenso hinter ihnen wie die allgegenwärtige Gängelung durch die jeweiligen Landespolizeien und Grenzeinheiten. War tags zuvor die Route über das ungarische Staatsgebiet noch passierbar, werden sie nun an der ungarisch-serbischen Grenze bei Röszke durch Zäune sowie hochgerüstete Polizeieinheiten aufgehalten. Hunderte harren vor der Grenze aus. Erschöpft, hungrig, durstig. Es kommt zu Tumulten. Sie sind aufgebracht. Wütend. Mit Wasserwerfern und Tränengasgranaten werden sie zurückgedrängt. Viele werden verletzt. Ungarische Sondereinheiten greifen willkürlich Flüchtlinge heraus und führen sie gewaltsam ab. Darunter auch Ahmed H. Dieser soll für zehn Jahre hinter Gittern verschwinden. Man kategorisiert ihn als Terroristen. Er habe gegen die staatsgewaltige Grenzwacht Aufbegehren geschürt. Die allgegenwärtige Gewalt der europäischen Grenzabschottung, die in kilometerlangen Zäunen, tristen Lagern und schwerbewaffneten Grenzeinheiten Gestalt angenommen hat, bildet den Hintergrund dieser individuellen Strafverfolgung. Wenn wir nicht mehr die allgemeinen Gewaltverhältnisse an den europäischen Außengrenzen in unseren analytischen Blick einbeziehen, verlieren wir den menschenrechtlichen für einen vermeintlich besonderen Straftäter, der in einem skandalösen Prozess des ungarischen Regimes erneut abgeurteilt zu werden droht. Und damit Gefahr läuft, auf Jahre seiner Freiheit beraubt zu werden. Als zählten die Menschenrechte eines vermeintlichen Terroristen und die Umstände, unter denen er handelte, nichts.

 

Ähnlich ergeht es Fabio V. Ein junger, politisch bewusster Mann aus Italien, der im Sommer nach Hamburg gekommen war, um mit Tausenden anderen Menschen gegen die Machtinszenierung der G20-Staaten zu protestieren, die die Welt an den Rand des ökologischen und ökonomischen Abgrunds führen. Wer erinnert sich noch an die Ergebnisse dieses bedeutungslosen Gipfels der kapital- und militärmächtigen Staaten? Schon in seinem Vorfeld wurden, medial verstärkt, düstere Gewaltszenarien prognostiziert, die den polizeilich-politischen Ausnahmezustand legitimieren sollten. Entsprechend fiel das polizeistrategische Einsatzkonzept aus, das der grundgesetzlich geschützten Versammlungs- und Meinungsfreiheit nicht sonderlich viel Wert beimaß. Eine weiträumige Verbotszone für Versammlungen wurde eingerichtet. Versammlungen wurden vielfach gewaltsam aufgelöst und zerstreut. Die polizeilichen Einsatzkräfte diktierten und eskalierten das Protestgeschehen. Der junge Mann soll zu einem kleineren, bis zu zweihundertköpfigen Demonstrationszug gehört haben, der früh morgens auf eine bundespolizeiliche Sondereinheit stieß, die für Beweissicherung und Festnahmen (BFE) in Blumberg bei Potsdam speziell ausgebildet wurde. Der Einheit wird nachgesagt, dass „Schwerverletzte ihren Weg pflastern“ (taz). So auch dieses Mal. Blitzschnell ist die Demonstrationsgruppe ohne Vorwarnung im polizeilichen Sturmlauf aufgerieben, Menschen fliehen in Panik und verletzen sich dabei teilweise schwer. Im polizeigewaltigen Nachgang wird an Fabio V. ein gerichtliches Exempel statuiert. Er sitzt fast fünf Monate in Untersuchungshaft, bevor er freikommt, obwohl ihm selbst nachweislich kein Angriff auf Polizeibeamte zur Last gelegt werden kann. Übrig bleibt der Vorwurf des Landfriedensbruchs, weil er sich in einer Demonstrationsversammlung befand, aus der heraus Straftaten begangen worden seien. Mitgegangen, mitgefangen! Es ist aber aus menschenrechtlicher Sicht nicht hinnehmbar, dass nun gegen Einzelne wie Fabio V. Straftaten konstruiert werden, um im Nachhinein die folgenschwere und rechtswidrige Polizeigewalt zu rechtfertigen: ein sichtliches Übermaß an polizeilicher Gewalt während eines insgesamt kreativen und demokratischen Protests gegen die Zusammenkunft der unserer aller Zukunft bestimmenden Weltmächtigen. Menschenrechtlich gilt, es kommt immer auf den je Einzelnen in gewaltgeformten Verhältnissen an. Daran halten wir fest.

 

Michèle Winkler + Britta Rabe | Martin Singe + Dirk Vogelskamp

 

 

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