26. Nov. 2018

INFORMATIONEN 4-2018 | Nov. 2018

Auf den Straßen Deutschlands wird so viel protestiert wie schon lange nicht mehr. Kaum ein Wochenende vergeht, an dem nicht irgendwo zehntausende Men­schen gemeinsam demonstrieren. Sei es in orange unter dem Namen „Seebrücke“ gegen die europäisch verfügte Unterlas­sung von Hilfeleistungen im Mittelmeer, für sichere Fluchtwege sowie offene Hä­fen. Sei es für den Erhalt des Hambacher Waldes, für den sofortigen Kohleausstieg und für eine verantwortliche Klimapolitik, die nicht partikulare Konzerninter­essen vor die Zukunftsperspektiven aller Bürger*innen stellt. Sei es gegen eine autoritäre Verschärfung von Polizeigesetzen, die verstärkt auf Überwachung und Kontrolle setzen und für ein vermeintliches Mehr an „Sicherheit“ kurzerhand Bürger- *innen- und Freiheitsrechte kassieren. Sei es gegen den aufschäumenden Rechts-populismus, die selbstherrliche Politik der CSU und des Innenministers Seehofer. Sei es unter dem Motto „We’ll come United“ für eine solidarische Gesellschaft der gleichen Teilhabe und Rechte, gegen Rassismus, Ausgrenzung und Abschiebun­gen. Sei es gegen stetig steigende und mittlerweile existenzbedrohende Mieten. So viele Menschen auf den Straßen ge­gen reaktionäre Entwicklungen und für emanzipatorische Zukunftsentwürfe, das gab es lange nicht mehr. Das macht Mut.

Gleichzeitig können wir nicht die Augen verschließen vor den entgegengesetzten Entwicklungen. Denn es sind ebenso tau-sende bis zehntausende Menschen auf den Straßen, um ein rechtsnationalistisches Weltbild zu verklären, das diejenigen aus­grenzt, denen kein Recht auf ein Leben in diesem Land – oder auf ein Leben all-gemein – zugestanden wird. Ob bei Pegi­da-Demonstrationen in Dresden, bei de­nen die Massen beim Thema Mittelmeer­migration „absaufen“ skandieren. Oder sei es die selbsternannte, extrem rechte Bür­gerbewegung Pro Chemnitz, die nach dem gewaltsamen Tod eines Chemnitzers zu­sammen mit Neonazis und Hooligans ge­gen „Ausländerkriminalität“ demonstriert und damit seit Wochen tausende Menschen mobilisieren kann. Zu erinnern ist auch an die zehntausenden Anhänger- *innen des türkischen Präsidenten Erdoğan, die diesem kürzlich in Köln frene­tisch zujubelten und dabei auch offen den Wolfsgruß, das Handzeichen der türkischen Faschisten zeigten. Die Selbst­verständlichkeit, mit der Neonazis und Faschisten ihre menschenfeindlichen Ideologien offen auf die Straßen tragen, kann nur erschrecken. Erst recht, wenn mittlerweile tausende Bürger*innen bei den Umzügen Spalier stehen, weil sie ihre Interessen bei den Rechtsnationalisten vertreten sehen und mit ihnen sympa­thisieren. Gesellschaftliche Inhumanität und Menschenfeindlichkeit brechen sich Bahn, wenn jene, die nach völkisch ras­sistischen Vorstellungen nicht in die nationale Gemeinschaft gehören, am Rande rechtspopulistischer Umzüge angegriffen und johlend durch Straßen gejagt wer­den.

Unser Ziel ist es, diese Dynamiken und Bewegungen politisch einzuordnen. Wir wollen verstehen und aufzeigen, wie disparate gesellschaftspolitische Entwick­lungen ineinandergreifen. Was hat beispielsweise der Protest für den Erhalt des Hambacher Waldes mit den Demonstrant*innen in Chemnitz zu tun? Auf­fallend, wie unterschiedlich von Regie­rungs- und behördlicher Seite agiert wird. Im Hambacher Wald werden Waldschützer*innen mit Schmerzgriffen und Schlägen aus Sitzblockaden geräumt, während die Polizei in Chemnitz hitlergrüßende Nazis innerhalb einer Demons­tration gewähren lässt. Und was hat das Engagement gegen Rassismus mit dem gegen die Polizeigesetzverschärfungen zu tun? Ein Blick nach Bayern zeigt, vor al­lem Geflüchtete sind von den erweiter­ten Polizeibefugnissen betroffen. Nach Inkrafttreten des neuen Polizeiaufgaben­gesetzes wurde zunächst alleinig Geflüch­teten anhand des neuen unbestimmten Rechtsbegriffs „der drohenden Gefahr“ die Freiheit entzogen.

Es kommt also nicht von ungefähr, dass die unterschiedlichen, progressiven zivil­gesellschaftlichen Bewegungen zusammenfinden, ihre Forderungen verbinden und miteinander auf die Straße gehen. So beispielsweise auf der komiteelich un­terstützten Großdemonstration am 13. Oktober in Berlin unter dem Motto „un­teilbar - Solidarität statt Ausgrenzung – für eine offene und freie Gesellschaft“. Aber auch die extreme Rechte konsoli­diert sich: in Chemnitz marschierten am 1. September erstmals AfD und Pegida offen zusammen mit Neonazis: ein öf­fentlicher Schulterschluss des völkisch-rechtsnationalistischen Parlamentarismus mit gewalttätigen NS-verherrlichenden Umstürzler*innen.

Die Zukunft unserer Gesellschaft ist ak­tuell hart umkämpft. Ob wir den Weg zu einer offenen und solidarischen, einer de­mokratisch menschenrechtlich orientier­ten Gesellschaft beschreiten werden, oder ob sich ausgrenzender, völkischer Natio­nalismus durchsetzen wird, bleibt (noch) offen. Es gibt Zeiten, da können wir uns aus den politischen Kontroversen und Kämpfen nicht heraushalten, da müssen wir uns den zivilgesellschaftlichen Initiativen, die Wege ins Offene und Freie suchen, anschließen und sie unter­stützen.

Britta Rabe, Dirk Vogelskamp, Michèle Winkler

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